Gute und böse Wilde, persische Briefe, Reisen in alle Welt: mit Beginn des 18. Jahrhunderts kommt im Europa der Aufklärung ein Prozess in Gang, in dessen Verdichtung Literatur und Ethnographie als miteinander verschränkte und zugleich in Konfrontation wie Konkurrenz stehende Erfahrungs- und Beschreibungsformen von Dezentrierung und Alterität kenntlich werden. Im Seminar soll der Versuch gemacht werden, literarische und ethnographische Texte des europäischen 18. Jahrhunderts soweit aufeinander zu beziehen, dass nicht nur die fundamentale Gleichzeitigkeit der jeweiligen Denk- und Problemhorizonte sichtbar wird, sondern ineins damit gerade auch der prinzipiell komplementär verlaufende Entstehungsprozess eines beiden Diskursformen gemeinsamen Felds aus Beobachtung, Vergleichung, Beschreibung und Erzählung.
Mit der Aufdeckung prinzipieller kultureller Varietäten und dem Schwinden der Vorstellung eines okzidental gerichteten Zentrums der Welt geht zudem eine Veränderung in der Position des Beobachters einher, der selbst mehr und mehr in den Prozess der Dezentrierung und Relativierung einbezogen wird. Auch die eigene Kultur, deren Regeln und Praktiken vor diesem Hintergrund nicht mehr ohne Weiteres allgemeine Geltung und Verbindlichkeit zugesprochen werden kann, wird nun erfassbar als eine Kultur unter anderen. Literarische und ethnographische Formen des Schreibens und Beschreibens geraten damit im Lauf des 18. Jahrhunderts beinahe unvermeidlich in analoge Bedingungsfelder; die teils disparaten kulturellen Räume, denen jeweils das Interesse der Schreibenden gilt, sind prinzipiell aufeinander beziehbar geworden. Gerade in der Entwicklung des Romans und anderer Prosaformen wird dieser Prozess der strukturellen und thematischen Verschränkung manifest; auch die eigene, scheinbar nahe Kultur wird in experimenteller und zugleich konkretisierender Weise erfahr- und beschreibbar wie eine andere, vermeintlich fremde.
Im Seminar werden wir uns der Gesamtproblematik auf drei Wegen nähern. Ein erster Teil dient der allgemeinen Einführung in ethnologische Fragestellungen, orientiert an grundlegenden Begriffsbestimmungen, personalen Fixpunkten und neueren Diskussionen (Writing-Culture-Debatte, Theorie und Praxis der Feldforschung, Anschließbarkeit der Kulturen). Im zweiten Teil sollen dann einige charakteristische Formen der Ethnographie im 18. Jahrhundert zur Sprache kommen (Entdeckungs- und Reiseberichte: La Hontan, Lafitau, Bougainville, Cook, Forster, Zimmermann, Niebuhr; kritisch-historische Arbeiten in Auszügen; Instruktionen für Forschungsreisende). Der dritte Teil des Seminars schließlich ist ganz der Vorstellung und Analyse einiger modellhafter literarischer Texte des 18. Jahrhunderts gewidmet (Defoe, Montesquieu, Johnson, Voltaire, Diderot, Wezel). Eine kleine Exkursion ins Münchner Völkerkunde-Museum soll das Seminar möglichst von der Schau-Seite her ergänzen.