Kartografie des Erkennens: Aufklärung als Weg- und Ortskunde (Wezel, Sterne, Poe); mit einem Exkurs zu Jacques Derrida

Stark gekürzte Version in Form eines nachträglichen Abstracts

1Ausgangspunkt meiner Überlegungen war zunächst der Gedanke gewesen, man könne das Paradigma Kartografie nutzbar machen als eine Art Lesemaschine, die eine Verknüpfung der literarischen Narrationsproblematik mit der von den Texten aufgeworfenen Frage nach den Wegen (und Orten), auf denen (und an denen) Erkenntnisse gewonnen und/oder hintertrieben werden, erleichtere – zumal, da mit der Karte die allgemeinen Bedingungen der Generierung von Referenz, Repräsentation und Abstraktion, sowie von Beziehungssinn schlechthin, je schon ins Spiel gebracht scheinen. Indes: die Beziehbarkeit von literarischem »Raum« und Karte – auch dann, wenn diese selbst thematisch wird – bleibt prekär genug, wird doch mit dieser Frage gerade jene Transformationsproblematik angeschnitten, die bereits das »Lesen« der Karten zur Übersetzungstätigkeit sui generis geraten lässt; zudem wäre noch zu untersuchen, inwiefern Karto-grafie als präformierende Kulturtechnik sich auch der Strukturalität literarischer Texte eingeschrieben haben wird, wenn diese bzw. einige ihrer Züge nun im kartografischen Rahmen neu lesbar werden sollen. Um aber den schieren Vorgabecharakter des kartografischen Modells nicht zu totalisieren, schien es mir geboten, auf einige Elemente in Jacques Derridas Ausarbeitungen zu Fragen der Spur, der Re-Markierung, der Bahnung, der différance, der Abkürzung, der Grenzen/Ränder/Margen, etc. zu verweisen, die Möglichkeiten auch zur Intervention ins kartografische Feld »selbst« böten, um dessen Bruchlinien und Verwerfungen kenntlich zu machen, sodass den Entzugs- und Verweisungsstrukturen der Texte jetzt nicht mehr einfach ein objektivierbares kartografisches Raster, dessen Nennung schon Aufschluss verspräche, entgegen stünde, sondern begreiflich würde, auf welch ähnliche Weise hier beiderseits Effekte z.B. von »destinerration« – von Bestimmungsirrung – ihr immer mögliches, mithin notwendig mögliches Spiel werden entfaltet haben können.

2Einige Texte Edgar Allan Poe’s, der wie kaum ein anderer im neunzehnten Jahrhundert die Verschlingung von Aufklärungsbegehren und Verrätselung zu artikulieren verstanden hat, dienten mir nun zum engführenden Einstieg in den Problemkreis Text und Karte. Wird in The Purloined Letter der Konnex von Karte und Aufschrift als argumentativer Rahmen für Dupins Findekunst genutzt, so verweist die Pfropfung von Geheimschrift und Lagemarkierung in The Gold Bug, deren Abhängigkeit von einer speziellen Geografie unabdingbar ist, gerade übers Problem der Berechenbarkeit auf den Transfer von Raum in Schrift. Im Roman The Narrative of Arthur Gordon Pym schließlich – an dessen Ende die Möglichkeiten der Transformation von Schluchten in Skizzen in Schriftzeichen samt deren Bedeutungsvalenzen zwischen Mensch, Süden, Weißem und Dunklem durchgespielt werden – scheint die Entscheidbarkeit der Frage nach dem jeweils abgrenzbaren Bereich von (realem) Raum, Karte und Schrift uneinholbar aufgeschoben.

3Im abschließenden (Haupt-)Teil versuchte ich, einige Züge des erzählerischen Umgangs mit kartografischen Problematiken bei den Aufklärungsromanciers Johann Karl Wezel und Laurence Sterne zu versammeln. So werden in Wezels Tobias Knaut z.B. die Zusammenhänge von Weg und Geografiekenntnis, von Wegkunde und tageszeitlichen Einflüssen, von Weg und Zufall, etc. angerissen. Auch die Grenzen von Karte und Riss (als Frage von Komplexität und Maßstab), sowie die Differenzqualität von Entfernungen in der physischen und moralischen Welt finden Eingang in den Parlando-Duktus des Erzählers. Dass Weg und Ver(w)irrung keine Gegensätze darstellen und dass sich Orte und Wege als Nichterfüllung des Verlangens vor allem der Hauptfigur präsentieren können, scheint ohnehin eine Bedingung des Statthabens der Narration zu sein. Als Ort marginaler Positionalität, von dem aus gleichwohl auch ins »Zentrum« gesellschaftlichen Vollzugs gezielt werden kann, wird schließlich der kartografische Problemfall der Höhle anvisiert.

4In Sterne’s Tristram Shandy wird mit der Thematisierung von Karten nicht allein der paradoxe Konnex von (vermeintlicher) Beherrschung des Gegenstands und gleichzeitigem Anwachsen der Wißbegierde, die damit aber das Konzept der Beherrschbarkeit schon zur Debatte gestellt haben wird, artikuliert, sondern auch der Augenblick der Rekonstruktion des kartografisch Transformierten als zutiefst prekär in Szene gesetzt. Dass die Fähigkeit, Karten zu zeichnen, von großer militärischer Bedeutung sei, wird – über die Figur des Onkel Toby – zwar eigens hervor gehoben, im selben Zug jedoch in einen wahrhaft enzyklopädischen Anspruch übersteigert, der die unumgängliche Aufschiebe- und Nachträglichkeitsstruktur solcher Projektionen hervor treten lässt. Karten präsentieren sich in Sterne’s Roman übrigens keineswegs einfach unterm Aspekt der Präformation des Suchansatzes, vielmehr müssen sie selbst vom Benutzer erst noch markiert werden, um das preis geben zu können, was in ihrem Andern Ereignis gewesen sein mag: so wird z.B. ein Stich in die Karte hilfreich beim Unterfangen, Onkel Toby’s Verwundung zugleich körperlich und kartografisch auf den Punkt zu bringen. Dass Erzählen hier freilich keiner geraden Linie folgen will, sondern über Digressionen organisiert ist, wirft ein Schlaglicht mehr auf das gemeinsame Driften von Karte und Text.

5Unternimmt man es, Texte der Aufklärungsliteratur auch als kartografisch in-formierte Versuche in »Weg- und Ortskunde« (im weitesten Sinn) zu lesen, so ließen sich hier Verbindungslinien ziehen, die ein Netz knüpften zwischen Reise, Imagination, Wissen, Utopie, Topik von Wegsystemen, Narrationsproblematik, Erkenntnisproblematik, Phänomenen des Entdeckens und Enthüllens, etc. Eine Frage wird dabei allerdings virulent bleiben: die nach dem Ort der Karte selbst, danach, ob der mit ihrer Paradigmatik verbundene Anspruch ein genereller sein kann oder ob die Möglichkeit ihrer Zitation partiell-zufällig bleiben muss. Doch hier tritt offenbar eine Ökonomie in Kraft, die keiner dieser Alternativen mehr Gehorsam zu leisten gezwungen sein wird.

Abstract-Version eines Vortrags auf dem Forschungskolloquium »Kartographie des Wissens« der Studienstiftung des deutschen Volkes, Großbergham bei München, 2.–5.1.1992

Creative Commons License
Kartografie des Erkennens von Manfred Musch steht unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz